Sexuelle Übergriffe haben weitreichende Folgen

Eine fachlich kompetente und menschlich einfühlsame Begleitung ist allen Betroffenen zu wünschen. Auf der Basis einer guten Vertrauensbeziehung können verschiedene Verarbeitungsmethoden eingesetzt werden. Die Begleitung erstreckt sich meistens über einen längeren Zeitraum.


Seit wann gibt es sexuelle Übergriffe?
Sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Jungen hat eine jahrhundertealte Tradition, wenn auch bis Anfang der 80er Jahre in Deutschland kaum darüber gesprochen wurde. In der Schweiz dauerte es noch länger, bis das Tabu gebrochen war. Als einige Kolleginnen und ich uns 1987 in Zürich zur ersten interdisziplinären Fachgruppe zu diesem Thema trafen, waren wir allein auf weiter Flur und mussten unsere Ausbildungen in Deutschland absolvieren. Glücklicherweise hat sich das inzwischen geändert und es gibt mittlerweile viele Fach- und Beratungsstellen für Betroffene.

Was ist unter sexuellen Übergriffen zu verstehen?
Sexuelle Ausbeutung von Kindern durch Erwachsene ist eine sexuelle Handlung des Erwachsenen mit einem Kind, das aufgrund seiner emotionalen und intellektuellen Entwicklung nicht in der Lage ist, dieser sexuellen Handlung informiert und frei zuzustimmen. Dabei nützt der Erwachsene die ungleichen Machtverhältnisse aus, um das Kind zur Kooperation zu überreden oder zu zwingen. Zentral ist dabei die Verpflichtung zur Geheimhaltung, die das Kind zur Sprachlosigkiet und Hilflosigkeit verurteilt.
Sexuelle Gewalt fängt bei heimlichen, vorsichtigen Berührungen, verletzenden Redensarten und Blicken an und reicht über Kinderpornographie bis hin zur oralen, vaginalen oder analen Vergewaltigung.

Welches sind die Folgen?
Sexuelle Übergriffe führen zu Vertrauensverlust, Sprachlosigkeit, Schuld- und Schamgefühlen, Ohnmacht, Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung, Ängsten und vielen anderen Spätfolgen. Viele körperliche Schmerzen und Störungen, Verhaltensauffälligkeiten, Auto-Aggressionen, Sucht, gestörtes Sozialverhalten und natürlich ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität sind die Folge von sexuellen Übergriffen.

Wie lebt man nach diesem traumatischen Erlebnis weiter?
Um weiterleben zu können, werden die Gewalterfahrungen vom Kind ins Unterbewusste verdrängt. Diese verdrängten Erinnerungen wirken jedoch wie eine Zeitbombe und ticken jahrelang, manchmal jahrzehntelang unbemerkt vor sich hin, bis irgendetwas, ein Bild, ein Geruch, eine Berührung, ein Satz, ein Musikstück plötzlich die Erinnerung wieder aufleben lässt. In den meisten Fällen ist die Zeit danach unermesslich schwer für die betroffene Frau und sie braucht in dieser Zeit eine einfühlsame, gut geschulte Fachperson, die sie in dem inneren Gefühlschaos kompetent begleiten kann.

Welche Art der Begleitung hat die grössten Chancen?
Ein umfassender und dauerhafter Heilungsprozess sollte auf vier Ebenen ablaufen: auf der Verstandesebene, auf der Körperebene, auf der Gefühlsebene und auf der spirituellen Ebene. Es versteht sich von selbst, dass dieser Prozess längere Zeit in Anspruch nimmt und nicht in wenigen Sitzungen vorbei ist. Ein entscheidendes Element in der Begleitung betroffener Frauen ist die Grenzziehung, Grenzbewusstmachung und Grenzwahrung zwischen Begleiterin und Klientin.

Wie weit Traumaverarbeitung überhaupt möglich ist, hängt von der Persönlichkeitsstruktur der Klientin, ihrer inneren Stabilität, der Tiefe der Verdrängung und dem Ausmass des Leidens ab. Wichtig dabei ist, dass die Klientin das Tempo und die Art und Weise der Verarbeitung bestimmt.

Die Begleitung betroffener Frauen stellt hohe Anforderungen an die Fachperson. Neben einer professionellen Ausbildung und fundiertem Wissen über sexuelle Übergriffe sollte sie selber eine eigene Charakteranalyse gemacht haben, ihre Reaktionen und Grenzen genau kennen und Supervision in Anspruch nehmen.

Wie sieht die psychologische Begleitung in meiner Praxis aus?
Ich begleite seit über fünfzehn Jahren Frauen bei der Aufarbeitung von sexuellen Übergriffen in der Kindheit. Dabei beziehe ich alle Methoden der Begleitung ein, die ich in den letzten dreissig Jahren gelernt habe. Welche davon zur Anwendung kommen, ist von Frau zu Frau sehr unterschiedlich. Das Wichtigste ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Sie müssen spüren, dass ich weiss, verstehe und nachempfinden kann, wovon Sie sprechen. Auf dieser Basis können dann Schritt für Schritt die traumatischen Erfahrungen verarbeitet werden. Dafür braucht es Mut, Geduld und Zuversicht. Dies wünsche ich allen betroffenen Frauen.

Manchmal kann ein Begleitungsprozess sich so anfühlen, wie im folgenden Text geschildert.

Gedicht, Autobiografie